Vorurteile

…lösen sich in Wohlgefallen auf. Manchmal jedenfalls. Und schneller als gedacht.

Ich hatte geglaubt, einen gewissen Unterschied feststellen zu können zwischen den von mir bisher bereisten türkischen Regionen  und der Gegend, in der ich mich die letzten Tage aufgehalten habe. Dabei habe ich mich zu einigen Voreingenommenheiten hinreißen lassen, die ich umgehend zu korrigieren mich genötigt sehe.

Es hat sich in Gölyazi herausgestellt, dass auch Kurden “nur” Menschen sind wie du und ich: Wenn alles passt, gewähren sie mir gerne Gastfreundschaft. Wenn nicht, dann findet sich auch in einem Teehaus, das mit zwei, drei Dutzend Männern gut besucht ist, niemand, der mich beherbergen kann. Das Gebot, einem um Hilfe bittenden Fremden beizustehen, wird aber eingehalten, wie das ja bei den meisten Türken auch der Fall ist (Nazi-Polizisten manchmal ausgeschlossen).

Und auch Türken können eine spontane, herzliche Gastfreundschaft entwickeln, wie ich sie bei den Kurden erlebt habe:

Nach meiner Teehaus-Übernachtung in Gölyazi bin ich spät aufgebrochen; es regnete vormittags in Strömen. Ich arbeitete mich am Nachmittag etwa 20 Kilometer gegen den stürmischen Wind voran; dann kam ich im Dorf mit einem Vater und seinen Kindern ins Gespräch.

Nachdem wir uns verabschiedet hatten und ich mich noch etwas weiterbegeben hatte, umringten mich in kurzer Zeit sechs oder sieben Jugendliche. Ein junger Mann kam dazu, und als wir die wichtigsten “Üblichkeiten” ausgetauscht hatten, fragte ich ihn, ob ich über Nacht vielleicht bei ihm bleiben könne. Er antwortete, er müsse erst seine Eltern fragen, telefonierte, und kurze Zeit später konnte ich ihn nach Hause begleiten.

Die Gegend hier ist wieder eine türkische. Anscheinend verläuft die Kreisgrenze zwischen Konya und Aksaray im Wesentlichen entlang der ethnischen Verteilung der Besiedelung des Landes… Das Dorf Koclar, in dem ich mich jetzt befand, ist ebenfalls ein rundum bestens gepflegtes und erhaltenes, ähnlich denen der Tage zuvor.

Die Begrüßung durch meine Gastgeber war offen und herzlich. Auch die kleine Schwester des jungen Mannes trat ungezwungen in Erscheinung. Das hatte ich in der Türkei so nicht immer erlebt.
Gegessen wurde gemeinsam. Oft ist es so, dass erst nur die Männer verpflegt werden, oder auch nur das Familienoberhaupt und der Gast. Alle anderen kommen später dran.

Geschlafen habe ich auf einem Matratzenlager am Boden, und zwar gemeinsam mit dem jungen Mann im Zimmer. Auch er nächtigte am Boden.

Ich hatte den Eindruck, dass die Hierarchie in der Familie hier eine weniger ausgeprägte Rolle spielte als in anderen Familien: Bekir, der mich mit nach Hause gebracht hatte, bekam ein Stück weit die Rolle des Gastgebers überlassen, obwohl er “nur” der Sohn ist.

Er zeigte sich tief beeindruckt von meiner Reise und von dem, was mich in ihrem Zusammenhang bewegt. Das wurde ganz besonders auch bei unserer Verabschiedung deutlich. 

Sie war so herzlich wie schon lange keine mehr, und Bekir begleitete mich danach noch weit durch das Dorf.

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