Nachtrag zu Auschwitz

Was für ein Häftling wäre ich gewesen?

Das ist eine Frage, mit der ich mich schon seit geraumer Zeit beschäftige, die aber nie so akut war wie bei meinem Besuch dort. Ich glaube, sie gehört hierher in diesen Blog.

Die vergleichsweise harmlosen Fragen betreffen die Ankunft in Birkenau: Was hätte ich gedacht und gefühlt beim Anblick dieser Barackenstadt? Hätte ich mir eingestanden, dass es mit meiner Familie sofort ins Gas geht und mit mir einige Zeit später, oder hätte ich mich an eine unrealistische Hoffnung geklammert? Wäre ich – was mir nicht unwahrscheinlich erscheint – mit diesen Fragen komplett überfordert gewesen und hätte mich in ein dumpfes, bewusstloses Mitmachen abgleiten lassen?

Und wie hätte ich gehandelt? 

Das führt zu dem noch unangenehmeren Teil der Überlegungen, des Versuchs, mich in die Lage eines Deportierten zu versetzen.

Hätte ich mich aufgegeben, stumpf die Befehle befolgt und versucht, durch Lagerleben und Arbeitseinsätze zu trotten, bis mich der Tod irgendwann einholt? Eine sehr naheliegende Möglichkeit.

Hätte ich mich in die Verzweiflung fallen lassen, wäre womöglich in die Zäune gegangen? Keinesfalls auszuschließen.

Oder wäre der Überlebenswille in mir erwacht? Auch das ist sehr gut denkbar. 

Und dann???

Ich hätte dann versuchen können, einer der Capos zu werden. Das wurde man bekanntlich, wenn man bereit war, mit der nötigen Brutalität ein Schreckensregiment über seine Mithäftlinge auszuüben. Es war die sicherste Methode, zu überleben. 

Ich hätte versuchen können, auch weiterhin ein einigermaßen anständiger Mensch zu sein – und wo immer das möglich ist, einen kleinen Vorteil für mich zu ergattern, sei es bei der Essensausgabe, sei es bei der Einteilung zur Arbeit, der Zuweisung des Schlafplatzes oder sonst wie. Dazu hätte ich mich am besten mit einer Gruppe Gleichgesinnter zusammengetan, die sich gegenseitig “berücksichtigt” hätten – auf Kosten derer, die nicht zu “uns” gehört hätten. 

Und wenn ich es geschafft hätte, all diesen Versuchungen zu widerstehen – wie wäre es gewesen, wenn die Veruchung ganz direkt und unmittelbar an mich herangetreten wäre, etwa wenn ich – geschwächt und ausgehungert von der Zwangsarbeit zurückgekehrt und mit Grauen an den nächsten Tag und den nächsten kraftraubenden Arbeitseinsatz denkend –  irgendwo das versteckte Stück Brot eines meiner Mithäftlinge entdeckt hätte – hätte ich es liegenlassen können? Oder wenn man mir nachts meine Mütze gestohlen hätte und ich die Gelegenheit gesehen hätte, mir von einem anderen Schlafenden die seine “auszuborgen”, um nicht am nächsten Morgen in den sicheren Tod zu gehen – was hätte ich getan? 

Wäre es mir möglich gewesen, unter den Umständen eines Arbeits- und Vernichtungslagers Menschlichkeit und Würde zu bewahren, auch und gerade durch den Verzicht darauf, anderen Menschen anzutun, was ich selbst nicht angetan haben möchte???

Die ehrliche Antwort ist: ich habe keine Ahnung.

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Ein Kommentar zu Nachtrag zu Auschwitz

  1. Martin sagt:

    Ja, da hast Du dich der schwierigsten -und wichtigsten – Frage gestellt, die man in diesem Zusammenhang aufwerfen kann. Naturgemäß ohne eine Antwort zu finden. Da unbeschädigt durchzukommen, ist wohl nur sehr wenigen gelungen. Oder vielleicht besser gesagt “zu teilgeworden”.-

    In Amerika gibt es einen Autor, der sehr jung nach Auschwitz kam und nachdem ers überstanden hatte studieren konnte und als Anwalt erfolgreich war. Erst mit über 70 fing er an, was er erlebt hatte in Erzählungen und Romanen zu verarbeiten; also nicht als biografischen Bericht. In einem Interview ließ er offen, ob er sich nicht direkt der Vergangenheit stellen konnte oder ob er niemand bloßstellen wollte, weil er erfahren hat, wie schwer es war, am Leben und dabei Mensch zu bleiben. Ich hab Leider seinen Namen vergessen. Ev. finde ich ihn wieder in meiner ziehmlich unfangreichen, aber leider völlig ungeordneten Sammlung von Zeitungstexten.

    Mit lieben Grüßen
    Martin

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