Einige Worte zu Auschwitz

Auschwitz? Warum will denn einer dorthin pilgern?

Nun, zugegeben: die Entscheidung für dieses Zwischenziel ist eine sehr ungewöhnliche. Man pilgert sonst ja doch immer an eine Stätte des Heils, egal welches Ziel man für die Pelegrinatio religiosa, die religiöse Wallfahrt, ins Auge fasst. Ich aber habe beschlossen, mich zunächst an die Stätte zu wenden, die aus meiner (und wohl nicht nur meiner) Sicht das allergrößte Unheil repräsentiert, das die Menschen bislang auf Erden angerichtet haben: Die industrielle physische Vernichtung von Menschen, um ihres Glaubens willen.
Ich empfinde und begreife das Pilgern als ein Beten mit den Füßen, als eine wochen- und monatelange Geh- Meditation. Natürlich ist es naheliegend, dieses “tätige Beten” auf ein Ziel des Heils zu richten, unabhängig davon, ob man dabei etwas für sich oder andere erbittet oder ob der Gang ein einziges großes Dankgebet sein will. Und Auschwitz?!?

Nun, hier haben meine Vorfahren meine Vorfahren vergast und eingeäschert. Eine Wallfahrt, die sich dorthin wendet, ist zunächst also nicht nur ein einziger großer Trauermarsch, sondern auch eine Art Bußgang (dass dieser Bußgang auch noch ganz andere, sehr viel direkter mich selbst betreffende Aspekte beinhaltet, steht auf einem  anderen Blatt und vielleicht bald in einem anderen Beitrag). Dieser erste große Abschnitt meiner Reise soll aber noch deutlich mehr sein als Trauermarsch und Bußgang. Dies zu beschreiben und einem unbefangenen Leser verständlich zu machen, ist allerdings eine schwierige und gefährliche Angelegenheit: allzu leicht kann es in Missverständnisse abgleiten – oder einfach nur Unverständnis und Kopfschütteln hervorrufen.

Ich will es  dennoch wagen. Eine Wallfahrt, die man an gerade DIESEN Ort unternimmt, kann der Versuch sein, das tätig betende Bemühen um gewisse Elemente des Heils, der Religion im ganz ursprünglichen Sinne als re-ligio, Wieder-Verbindung, gerade mit diesem Flecken Erde in Zusammenhang zu bringen. Als wichtige Bestandteile des Religiösen kennt man von alters her das Beten, das Büßen und das Verzeihen und Vergeben. Die Vorgänge, durch die Auschwitz in die Menschheitsgeschichte eingegangen ist, sind – das hat man uns allen schon früh beigebracht – wohl unverzeilich. Und in mancherlei Hinsicht ist es wichtig, gerade dies – die Unverzeihlichkeit – nicht zu vergessen.

Was man aber tun kann, ist: beten. Und büßen. Und mehr noch: man kann die Frage nach der Vergebung im Herzen lebendig halten; man kann versuchen, in der eigenen Brust den Widerspruch zu ertragen zwischen dem Wissen um die Tatsache, dass Christus auf Golgatha alle Sünden der Menschen auf sich genommen hat, und dem Bewusstsein von der Unverzeilichkeit der Vorgänge in Auschwitz, das sich (jedenfalls bei mir) unvermeidlich einstellt, wenn ich mich ohne jede innere Abwehr, ohne allen Selbstschutz darauf einlasse. 
Wenn ich mich pilgernd nach Auschwitz wende, tue ich das als ganzer Mensch, mit allen Anteilen meiner Persönlichkeit, was in meinem Fall auch bedeutet: Als Deutscher. Als Christ. Als Jude. Das Gebet meines Herzens, zum Ausdruck äußerlicher Art gebracht durch meine Füße, wendet sich ebenso an Auschwitz als Ganzes: Es will ein Gebet sein für die Opfer. Es will ein Gebet sein für die Täter. Es will ein Gebet sein für die Überlebenden. (Für Letztere auch und gerade dann, wenn sie sich im Lager beim Kampf ums Überleben schuldig gemacht haben; dieses heiße Thema kann hier nicht weiter vertieft werden – das muss an anderer Stelle geschehen). Dies nicht nur oberflächlich zu tun, sondern im allertiefsten Inneren empfunden und erlebt, bedeutet: ich versuche, mein Herz unendlich zu weiten – so zu weiten, dass ich damit die ganze welthistorische Tatsache Auschwitz umfangen kann. Betend. Fürbittend. Verzeihend.

Die richtige Zeit für ein solches Unterfangen scheint mir zweifellos die Zeit von Totensonntag bis Wintersonnenwende zu sein. “Zufällig” ist das auch der Zeitrahnen, der für meine Verhältnisse realistisch erscheint.

Und schließlich: diesen Impuls des In mir Umschließens des Unfassbaren, das Bemühen um ein Verstehen des Unverständlichen, das Ringen um ein Vergeben des Unverzeilichen – diesen Impuls in der Fortsetzung der Wallfahrt nach Jerusalem zu tragen, in die Stadt also, die seit Jahrtausenden der Ort der Heilserwartung ist, für Juden, für Christen, für Muslime – und die doch gleichzeitig steht für: nicht verzeihen können und wollen, nicht verstehen können und wollen, nicht fassen können und wollen: das scheint mir ein zeitgemäßer, zukunftsträchtiger, wenngleich wohl aussichtsloser, für mich persönlich aber überaus wahrhaftiger und stimmiger Impuls zu sein. 

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2 Kommentare zu Einige Worte zu Auschwitz

  1. Angelika sagt:

    Ja, der 21.12. ist der dunkleste Tag im Jahr und das Tageslicht ist nur wenige Stunden vorhanden. An diesem Tag in Auschwitz zu sein heißt die dunkle Vergangenheit dieses Ortes in tiefster Weise in sich aufzunehmen und sich mit der eigenen Dunkelheit zu konfrontieren. Ich wünsche Dir, dass du trotz der Widerstände, die das Bein dir bereitet, nach Auschwitz kommst. Der Weg auf den dunkelsten Tag zu hat bereits begonnen und ist mit diesem geschwollenen Bein mühsam und schwer ( auch ohne Beinschmerzen) Es ist gut, die Adventskraft im Gepäck zu spüren.In den Verheißungen aus dem Jesajabuch erhälst du eine Wegzehrung: Jesaja 9: Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht und über denen, die da wohnen im finsteren Lande,scheint es hell. Und im Lied “Die Nacht ist vorgedrungen” heißt es in Strophe 4: Noch manche Nacht wird fallen, auf Menschenleid und -schuld. Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld. Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr,von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her. Ein Gebet für dich: Gott, du bist bei mir. du begleitest mich und stehst mir zu Seite. Stärke mein Vertrauen darauf, dass du bei mir bist. Sammle meine Gedanken.Hilf mir, im Gehen zur Ruhe zu kommen.Lass mich verstehen,was du mir sagen willst.Schenke mir die Kraft und den Willen,mich von dir leiten zu lassen. Amen

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