Vermischtes aus Tacettin

Fotos: https://goo.gl/photos/ew2JUz5jTACmzvPc6
Nach der Begegnung mit der syrischen unfreiwilligen Landarbeiterin habe ich noch 22 Kilometer vor mir, bis ich mein Tagesziel, Tacettin, erreiche. Ich wandere weite, bewässerte Felder entlang, sehe überall die leeren Styroporpaletten herumliegen und -fliegen, in denen die kleinen Pflänzchen geliefert werden und die allem Anschen nach niemand entsorgt, und begegne anderen Pflanz- und Erntekolonnen: In Foliengewächshäusern scheinen Möhren gezogen zu werden, die jetzt in Kisten und Säcken auf Lastwägen verladen werden.

Die letzten drei, vier Kilometer geht es steil bergan. Mehrmals halten Autofahrer an, um mich mitzunehmen. Das Wetter ist jetzt nach deutschen Maßstäben fast sommerlich warm, aber es weht ein kräftiger Wind – bemerkenswerterweise auch den steilen Berg hinunter, mir ins Gesicht.

Auf der Hochfläche angekommen, begegnet mir noch vor der Ortsmitte Mustafa, ein Mann von etwa dreißig Jahren. Nach der Begrüßung verdeutliche ich ihm mit Hilfe meiner “Papierausrüstung” (türkische Übersetzung des Pilgerbriefs und handgeschriebener Zettel meines neuen Freundes Abdul’vali, des Hochleistungs-Antisemiten aus Serefiye), wer ich bin und was ich brauche. Sofort erklärt er sich bereit, mir zu helfen. Er nimmt mich mit zu sich nach Hause; ich darf, was hier sehr selten vorkommt, ins Haus und bekomme von Mustafas Mutter eine reichliche Mahlzeit serviert: 

Ein Tuch kommt auf den Boden, darauf ein etwa zehn Zentimeter hoher Holzring, und hierauf schließlich das Tablett mit dem Essen: Weiße Bohnen, grüne Bohnen, Graupen, Joghurt, dazu natürlich Ekmek, das unvermeidliche Weißbrot, sauer-scharf eingelegtes Weißkraut mit Gurken, und zum Schluss Feigenkompott. Das alles wird in Schüsseln dargeboten, aus denen wir gemeinsam essen.

Seit dem Betreten des Zimmers wird im Fernsehen nur ein Ereignis präsentiert: Die Aksiyon Referandum (oder so ähnlich) der AK-Parti, der Regierungspartei also. Man sieht überwiegend Yildirim, den Regierungschef, wie er am Rednerpult mit kurzen, suggestiven Sätzen und Ausrufen sein Publikum in Stimmung bringt. Vor der Bühne: Ein Meer roter, orange-gelber und blauer Fahnen, freundliche bis jubelnde Gesichter. Auf der Bühne ein Redner, dessen Entschlossenheit mal freudig-erwartungsvoll anmutet, mal zornig-unerbittlich direkt in die Köpfe und Herzen fließt – je nachdem, ob Yildirim die Größe der Türkei, ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschwört, oder verspricht, den Kampf gegen Putschisten und Terroristen bis zum Ende durchzufechten. Man fühlt sich verstanden – in seinen Hoffnungen und Sorgen, seinen Sehnsüchten und Ängsten. Und dabei ist das hier ja nur der Sekundant. Der eigentlich das Sagen hat, – jeder weiß es -, ist der Präsident, ist Recep Tayyip Erdogan! 

Ich lasse mir Zeit mit dem Essen (beziehungsweise Mustafa lässt mir Zeit): Ich bin ziemlich hungrig und darf alles aufessen… Anschließend gehen wir ins Teehaus. Dort werde ich einige Zeit den Anwesenden wie ein etwas exotischer Vogel präsentiert. Wir trinken einige Gläsewr Tee, und dann zeigt man mir, wo ich schlafen kann: 

Unter der im ersten Obergeschoss gelegenen Teestube befindet sich ein kleiner Raum mit zwei ebenfalls nicht besonders großen Stockbetten. Ein runder Tisch, ein mit einer türkischen Flagge verhängtes Regal und ein Heizstrahler runden das Mobiliar ab. Im Nebenraum befindet sich eine Toilette. Unglücklicherweise ist das Wasser abgestellt… Doch die Männer aus dem Teehaus wissen Rat: Ich soll die Toilette an der Moschee benutzen.

Und dann geht es wieder zurück ins Teehaus. Auch hier läuft, seit ich es zum ersten Mal betreten habe, der Fernseher – mit demselben Programm, wie bei Mustafa zuhause. Und die “Aksiyon” ist immer noch nicht zu Ende: Nach Binali Yildirim ist jetzt ein Redner der CHP zu sehen, der ebenfalls das Publikum auf die Verfassungsänderung einschwört, um nicht zu sagen: einpeitscht. Man sieht und spürt auch hier sofort: Es geht Großes vor sich, und es fühlt sich gut an, Teil dieser Größe zu sein!!!

Wie erbärmlich erscheint doch dagegen das, was anschließend in den Nachrichten auch noch gezeigt wird, nachdem die Veranstaltung der AKP ausgiebigst gewürdigt wurde:

Die Kamera schwenkt über die leeren Sitze eines Stadions. Dann kommt der Wahlkamfbus der MHP ins Bild, einer Partei, die sich gegen die Verfassungsänderung positioniert hat. Vor dem Bus steht ein einsamer Redner am Mikrofon und spricht ohne jede Handgeste einige Worte. Was er zu sagen hat, kann man aber nicht hören (es ist, das spürt man doch sofort, ganz sicher auch entbehrlich…): Die Regie des Nachrichtensenders geruht, dem Zuschauer nur den Kommentar der Nachrichtensprecherin zu Gehör zu bringen. 

Kein Zweifel: Wenn DU nicht zu den Loosern und ganz armen Würstchen gehören willst, wendest du dich hier schleunigst ab und den Regierungsparteien zu. Dann hast auch DU Teil an der jubelnden Aufbruchstimmung! Dann trägst auch DU mit deiner Wählerstimme dazu bei, die Türkei noch stärker, noch schöner, noch größer zu machen!!!

Das kannst du doch fühlen, nicht war?! Da muss man nicht groß drüber nachdenken!!!

Türkiye! Türkiye!! Türkiye!!!

Ich entfliehe der verrauchten Teestube, begebe mich mit Handtuch, Seife und Zahnbürste zur Toilette an der Moschee und reinige mich, so gut es mit dem kalten Wasser am Waschbecken eben möglich ist, vom Schmutz des Tages. Ich setze mich an den Tisch in meinem “Schlafzimmer” und schreibe ein wenig. Dann breite ich meinen Schlafsack auf einem der Stockbetten aus, bereite mich innerlich auf die Nacht vor, lösche das Licht und bette mich zur Ruhe.

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