Zauber der Tatra

Das Hochgebirge übt auf mich eine ganz besondere Wirkung aus: Der Blick, die Atmung, der Herzschlag verändern sich in charakteristischer Weise, wenn ich die Augen zu den schneebedeckten Gipfeln erhebe (sorry, soviel Pathos muss hier einfach mal sein). Mein ganzes Inneres ist, als werde es gemeinsam mit meinem Blick auf die Berge nach oben getragen. Man kann fast sagen: Die Berge sind für mich wie ein physisch gewordenes Gebet, eine Art “Umstülpung”, bei der die innere, geistigen Hinwendung zu einem Göttlichen plötzlich zu Stein, Eis und Schnee, zu Luft und Licht kondensiert und materialisiert.

Kein Wunder, dass nicht nur die alten Griechen, sondern auch viele andere Völker dieser Welt die höchsten Berge als Wohnort der Götter verehrten und noch verehren.

Besonders stark war für mich dieses Erleben hier in der Tatra, während der letzten beiden Tage: Die malerischen Gebirgszüge, der strahlende Sonnenschein und die gleißende Schneedecke auch in den Niederungen, dazu die für die Karpaten charakteristische Bewaldung aus Fichten und Tannen hat auf mich eine so zauberhafte Wirkung ausgeübt, dass ich sagen muss: allein schon dafür haben sich die tausend Kilometer, die ich mittlerweile gewandert bin, auf alle Fälle gelohnt.

Als alter Jäger und Naturfreund interessiere ich mich natürlich auch besonders für die Tierwelt hier und damit für die Spuren, die man im Schnee findet. Da sind hier, neben Fuchspuren und Rehfährten, vor allem die Fährten des Rotwilds zu nennen: Sie sind beinahe allgegenwärtig, in allen Größen, vom Kalb bis zum starken Hirsch. Auch Gamsfährten kreuzten gelegentlich meinen Weg. Als Krönung habe ich es aber erlebt, auf die Fährte eines Wolfs zu stoßen, schon vorgestern, noch tief in den polnischen Beskiden. Da handelte es sich um die Fährte eines einzelnen, sehr starken Exemplars. Und gestern stieß ich nicht nur auf eine zweite Wolfsspur (ein deutlich kleineres Tier als am Vortag), sondern zu meiner Überraschung sogar auf die Fährte eines Bären (der sollte doch um diese Zeit eigentlich Winterruhe halten?)! Diese herrlichen Tiere zwar nicht direkt in Anblick zu bekommen, wohl aber die unumstößlichen Beweise ihrer physischen Gegenwart, wenige Stunden vor mir, an exakt der gleichen Stelle, an der ich jetzt gehe – das gibt dem oben beschriebenen erhabenen und erhebenden Erlebnis eine ganz eigene und aufregende Note. Auch ein Fuchs trug zu dieser Steigerung gestern noch bei: Er war am hellen Tag auf freiem Feld so sehr mit Mausen beschäftigt, dass er mich bis auf eine Entfernung von etwa 150 Metern an sich herankommen lies, bevor er mich bemerkte und mit wehender Lunte das Weite suchte.

Die Tagesetappe selbst war mit 22-23 Kilometern bescheiden. Zum einen musste ich gestern (Sylvester) oft auf dem lockeren Schnee laufen, der von den Autoreifen aus der Fahrspur an die Seite gedrängt wird. Außerdem war ich ohne Frühstück losmarschiert (aber immerhin mit einem Tütchen mit Mohnkuchen und zwei leckeren Keksen…) und hatte das unterwegs auch nicht mehr nachgeholt. Die Möglichkeit dazu hätte ich finanziell gehabt: Meine Gastgeber der letzten Nacht wollten die 20 Euro des Pfarrers, die ich ihnen angeboten hatte, nicht annehmen und meinten, ich solle sie behalten! Kaffee oder Tee fehlten mir aber dann doch irgendwann. Und schließlich fand ich es passend, zu Sonnenuntergang in der Stadt (Kezmarok) an einer großen Kirche Station zu machen. Hier kann ich jetzt sogar einen Ruhetag einlegen. Und was für einen: Gegen Mittag war der Oberpfarrer (Bischof?) hier und erklärte, er müsse jetzt weg, ich solle ins Hotel gehen zum Mittagessen; ich bedeutete ihm (er spricht nur Slowakisch, was ich nun überhaupt nicht kann), ich sei mit dem Frühstück sehr gut versorgt und brauche eigentlich noch nichts zu essen – und er meinte nur, die Richtung zeigend und nickend, Hotelo!, und legte mir siebzig(!) Euro auf den Tisch!

Bis dahin gabˋs aber noch Hindernisse:

Als ich gegen 15:30 an der Kirche ankam, hatte die Cancellaria noch geöffnet. Der Bischof bot mir aber leider keinen Platz zum Ausruhen an, sondern sagte etwas, das ich als “Messe” verstand, und etwas von “Terrassa”. So stand ich erstmal wieder draußen vor der Tür…

Das hatte aus Sicht des Boschofs gute Gründe: Die Cancellaria schloss, und um 16:00 Uhr gab es in der schon 20 Minuten vorher vollbesetzten Kirche eine große Messe mit drei Priestern und etwa 15 Messdienern. Ich setzte mich in eine der hintersten Bankreihen (es waren auch Stühle aufgestellt) und kämpfte zunächst ein wenig mit der Kälte, dann aber irgendwann, in einer der längeren Stehphasen, mit Kreislaufproblemen. Ich hatte tagsüber nur sehr wenig Wasser getrunken, der Morgen war wie beschrieben ohne Getränk verlaufen und auch am Abend davor hatte ich wohl nicht soviel Flüssigkeit abbekommen, wie es gut gewesen wäre. Jedenfalls musste ich mich zweimal an sicherlich ganz unpassenden Stellen während der Heiligen Messe setzen: Vielleicht kennt der eine oder andere Leser dieses lautlose, warme Summen und Brummen, das einem den Körper entlang nach oben in den Kopf steigt und das einer Ohnmacht unmittelbar voran geht… Es kam in der Kirche plötzlich über mich und ließ mir die Sinne schwinden. Immerhin: Das Umfallen konnte ich beide Male vermeiden.

Als die Messe zuende war, musste ich mir eingestehen, dass ich gerade dabei war, den Mut deutlich sinken zu lassen. Als das erst einmal erkannt war, konnte ich mich auch wieder innerlich fangen und aufrichten (in diesem Fall mit: Du Vater, Du rate! Lenke Du und wende. Herr, Dir in die Hände sei Anfang und Ende – sei alles gelegt!)

Als ich dann eine Ordensschwester aus der Kirche gehen sah, schulterte ich eilig meinen Rucksack und folgte ihr, in der Hoffnung, an eine Klosterpforte geführt zu werden, bei der ich vielleicht Einlass fände. Als ich eben das Kirchengrundstück durch einen gemauerten Torbogen verlassen wollte, rief mich von hinten – der Bischof an. Er führte mich in die Sakristei, wo uns einer der Messdiener englisch-slowakisch dolmetschte. Ich konnte nocheinmal erklären, woher ich komme und wohin ich gehe, wie ich heiße und was ich hier in Kezmarok beabsichtige. Ich sollte daraufhin meinen “Passport” zeigen. Dass ich stattdessen nur den Personalausweis vorzeigen konnte, verlangte nach einer Erklärung – die Geschichte mit dem Visum für Syrien, das meine Familie im Januar schriftlich bei der syrischen Botschaft in Berlin beantragen muss, weil es sonst bei meiner Ankunft an der syrisch-türkischen Grenze schon abgelaufen sein würde, überzeugte den Bischof.

Ich wurde in das Zimmer hinter der Cancellaria gebracht, zu dem ein eigenes Badezimmer gehört und das wohl sonst von der Haushälterin bewohnt wird. Ich bekam ein Abendessen und heute ein Frühstück dorthin serviert, und ich darf bis morgen hierbleiben.

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3 Kommentare zu Zauber der Tatra

  1. Elisabeth Lahusen sagt:

    Guten Tag lieber Cousin, es ist ja schon erstaunlich, wo Du Dich bewegst. Ich verfolge aus dem sicheren Deutschland aus seit einiger Zeit die Nachrichten und muss doch sagen, dass ich beunruhigt bin, wenn ich denke, dass Du am Ende Deiner Reise durch Syrien willst. Warst Du nie in Sorge, dort buchstäblich zwischen die Fronten zu geraten? Es sind ja in letzter Zeit so einige Männer aus Deutschland in dieser Richtung unterwegs, was auch in der Türkei schon nicht besonders gerne gesehen wird. Zwar wird wohl kaum einer, der Dich kennt, je auf die Idee kommen, Du wärst ein Islamist, aber der eigene Friedenswille steht einem bekanntlich nicht auf der Stirne geschrieben und Du reist ( falls man Dich dort überhaupt durch lässt) durch Kriegsgebiet. Nichts für Ungut, aber wirklich glücklich finde ich diese Vorstellung nicht. ( Es gibt eine Flugverbindung von Adana nach TA, aber das weißt Du bestimmt alles) Pass auf Dich auf -Beste Grüße, Elisabeth

    • David sagt:

      Liebe Elisabeth,
      danke erstmal für Deine Sorgen um mich – und für Dein Interesse an meiner Reise! Ich interpretiere beides für mich gerne als Wertschätzung Deinerseits.
      Ich kann Dich beruhigen: ich werde nichts Unüberlegtes tun. Ich habe in meinem Titelbeitrag sehr bewusst geschrieben:”…wenn irgend möglich über Syrien…”. Bis ich mich wirklich der türkisch-syrischen Grenze auch nur nähere, wird noch sehr viel Wasser die Donau und den Jordan hinunterfließen – das wird nicht vor Mitte März sein. Vielleicht bombt Putin mir bis dahin ja den Weg frei…(“Allways look on the bright side of life!”- oder: nichts ist so schlecht, dass es nicht auch sein Gutes hätte). Und wenn nicht: Ich werde ja mit einiger Wahrscheinlichkeit sowieso schon in der Türkei abbrechen müssen. Und sollte es wirklich möglich sein, auf meine Art auch durch die Türkei zu reisen, werde ich mich sehr genau informieren, wie die Lage nicht nur in Syrien ganz allgemein, sondern genau dort ist, wo ich gegebenenfalls durch will (ich hoffe darauf, bis dahin noch viele Kontakte zu knüpfen, die mich detailliert werden informieren können). Das wird dann Grundlage der Entscheidung sein, weiterzuwandern – oder eben nicht.
      Und spätestens an der Grenze wird man mich – nach gegenwärtigem Stand – in der Tat zurückweisen.
      Natürlich ist das Ganze auch jetzt schon etwas gefährlicher als ein Pauschalurlaub auf Mallorca. Das ist ein Urlaub in Istanbul oder Ägypten oder ein Besuch auf dem Berliner Weihnachtsmarkt aber auch. Und: ich werde nur das tun, was ich für verantwortbar halte.
      P.S.: Wie sicher oder unsicher sind bzw. waren eigentlich die Bundeswehreinsätze in, sagen wir, Mali oder Afghanistan? Ja, ich weiß: die hältst du auch für idiotisch. Aber da wird ein hohes Risiko für Leib und Leben unserer Soldaten weitgehend akzeptiert… Du könntest doch mal versuchen, mich Dir als eine Art Blauhelmsoldaten in eigener Mission vorzustellen! Du meinst, das sei doch lächerlich, ich werde absolut nichts bewegen können? Stimmt natürlich – aber in mir selbst werden entscheidende Veränderungen stattfinden.
      Liebe Grüße! David

      • Elisabeth Lahusen sagt:

        Danke, es ist beruhigend, zu wissen, dass Du Dich nicht ganz naiv auf den Weg gemacht hast. Ich halte die Bundeswehreinsätze übrigens nicht für idiotisch, sondern z. T. auch für notwendig. Ich sehe sie im Kontext der Nato und ich habe tatsächlich auch Kontakt zu Leuten, die sich auf solchen militärischen Missionen bewegen. Und das sind durchweg sehr vernünftige Menschen. Ein guter Soldat ( sofern er sich als Bürger in Uniform einem demokratischen Gemeinwesen verpflichtet fühlt und nicht im negativen Sinne ” Militarist” ist) geht nie mehr Risiken ein, als der Situation angemessen sind – weder für sich und seine Kameraden, noch für die Zivilbevölkerung in seinem Umfeld. Da werden auch Fehler gemacht – aber mit Appeasement alleine wird die Welt ja leider auch nicht friedlicher. – Solange Du nicht auf ” Deubel komm raus” unbedingt weiter willst, finde ich Deine Wanderung auch ausgesprochen mutig. Sonst wäre sie unverantwortlich, denn Du bist ja nicht allein auf dieser Welt. Ich bin gespannt, was Du berichten wirst und ich kann sie auf einer persönlichen Ebene auch sehr gut nachvollziehen, denn diesen Zwiespalt zwischen der ” deutschen” und der ” jüdischen” Familie erlebe ich ähnlich,allerdings mit dem Grundgefühl, dass gerade die jüdischen Vorfahren sogar in besonders intensiver Weise deutsch waren. Auch ” Deutschland” hat sehr viel verloren, als die jüdischen Europäer vernichtet wurden. ( Die Mutter eines Pflegekindes ist Musikerin- sie sammelt seit Jahren Kompositionen vergessener jüdischer Künster aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten/ Polen/ Böhmen usw. und als ich sie einmal frug, warum sie das tut, sagte sie: ” Es ist auch MEINE Kultur- ich habe das Gefühl, ich muss das auch für mich tun. Die Nazis haben damals auch einen Teil Deutschlands vernichtet) Ein weiterer Freund ist als Kind iranischer Juden in Berlin aufgewachsen. Er hat erst als Jugendlicher begriffen, dass er anders ist, als das arabische/ türkische Umfeld, in dem er groß wurde. Er war in Jugendbanden, als Sprayer unterwegs und dann als junger Deutscher bei der Bundeswehr und später, nach der Aliya, als Israeli bei der IDF. Arye ist so ziemlich der unagressivste Mensch, den ich kenne. Zur Zeit erklärt er den Deutschen wie die Israelis ” ticken” und er macht das ausgesprochen gut. Ich denke, es ist notwendig – für uns selber und auch für unsere Beziehung zu anderen Menschen, dass wir grundsätzlich bereit sind zum Dialog. Dass Du dies auf einer Pilgerreise machst und uns daran teilhaben lässt -dafür danke ich Dir.

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