Istanbul – und jetzt?

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Nun bin ich tatsächlich bis Istanbul gekommen. Die zweite Hälfte meiner Pilgerreise hat also definitiv begonnen, sowohl zeitlich als auch der Strecke nach. 

Es ist also Zeit für eine Art Zwischenbilanz. Und die ist nicht ganz einfach:

Womit bin ich angetreten? Was ist davon geblieben, was dazugekommen? Kann und will ich benennen, was ich dazugelernt habe in den letzten knapp drei Monaten? Und was mir vielleicht auch verlorengegangen ist seit meiner Abreise? Was hoffe, was befürchte ich zum jetzigen Zeitpunkt für die Zukunft? Und wie war das in den Wochen und Monaten davor?

Sollte ich mir überhaupt so viele Fragen stellen? Ja, natürlich sollte ich das – sagt etwas in meinem Inneren. Und der, der das alles beobachtet, stellt fest: Es hat erhebliche Folgen, so zu fragen…

Ich muss nämlich sagen, dass ich seit den Tagen, in denen ich verstärkt diese Grundsatzfragen in mir bewege, deutlich anderst unterwegs bin als vorher; äußerlich wie innerlich. Ich habe erheblich an Zielstrebigkeit verloren (nicht nur, dass ich hier in der Großstadt “herumhänge”, nein, auch schon im Vorfeld bin ich langsamer geworden), und ich verfalle zusehends in eine Haltung, wie sie mir nur allzu bekannt ist: Ein zögerliches In-mich-gekehrt-Sein, ein Abwarten bemächtigt sich meiner auch da, wo es vielleicht eher um Entschlossenheit und Tatkraft ginge. Mein Rücken macht mir immer wieder zu schaffen (über weite Strecken meiner Reise war das anders gewesen), und der Versuch, abzuspüren, was gut und richtig sein könnte, führt zu immer weniger Klarheit. Ich habe fast den Eindruck, als sei einiges von dem verlorengegangen, was ich vorher an Führung und Begleitung gehabt hatte.

Und was bedeutet das nun für den weiteren Verlauf der Reise? Kann und soll ich einfach weitermarschieren, die 1000 km in Richtung syrischer Grenze, und dann in der Gegend von Adana entscheiden, ob ich den Versuch wagen kann, Syrien zu durchqueren, oder ob ich mich um eine Überfahrt in einem Frachtschiff oder einer Fähre bemühen soll? Das ist meinen Recherchen nach nicht ganz einfach. Oder sollte ich gleich umdrehen und mich nach Griechenland wenden? Von dort wäre eine Überfahrt nach Israel wohl einfacher zu haben. Und wenn ich einfach weitergehe – wie komme ich über den Bosporus? Zu Fuß darf man das nicht mehr – wegen der vielen Selbstmörder, die die Brücke missbraucht (sollte man sagen: genutzt?) haben. Und Taxi oder Fähre sind teuer…

Und was ist aus meinem Gottvertrauen geworden? Sollte ich nicht an meinem Vorhaben festhalten, ungeachtet der Versuche aus meiner Verwandtschaft, mich zur Umkehr zu bewegen (man könnte auch sagen: Zweifel zu streuen…) und unbeirrt von den Gedanken und Gefühlen der Angst, die mich in den letzten Tagen zunehmend zu begleiten scheinen?

Nun, den Rückzug ins Innere, die abnehmende Handlungsfähigkeit im Äußeren, das kenne ich ja bis zum Erbrechen. Für den Augenblick kann das keine ernsthafte Option sein. Ich werde also losmarschieren und weiter mein Glück versuchen. Istanbul ist noch groß – so schnell werde ich es “hinten” nicht verlassen können (ich kann mich noch lebhaft an eine Zwischenlandung erinnern, die ich einmal abends in Istanbul hatte: Wir sind damals eine gefühlte Ewigkeit über ein unglaubliches Lichtermeer geflogen, bevor wir den Flughafen erreicht haben), und das, was mich danach erwartet, im asiatischen Teil der Türkei, werde ich dann ja sehen…

Vielleicht soviel noch am Schluss: Das Gefühl, ein wirklicher Fremder, ein Peregrinus zu sein, hat sich meiner hier in der Megacity Istanbul in besonderem Maße bemächtigt, und es steht im Widerstreit mit dem Gefühl, ganz der Alte zu sein. Nein: Das ist gar kein Widerspruch – es ist sogar eine gegenseitige Verstärkung auszumachen, die zu einer Art Synthese führt. Man kann sagen: Es entsteht eine Legierung, die diese beiden Gefühls- und Seelenzustände untrennbar miteinander vereint – wenn ich das zulasse.

Ich werde mich jetzt also besser wieder auf den Weg machen – äußerlich wie innerlich. Schließlich ist auch der Zweifel Teil eines jeden ernsthaften Pilgerweges – vielleich sogar der wichtigste.

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3 Kommentare zu Istanbul – und jetzt?

  1. Sr. Mary Clemens Hamukoto, OSB sagt:

    Es ist schön, deinen Verbleib zu hören, David. Gott segne dich!
    Benediktinerinnen in Tsarev Brod – Shumen, Bulgarien

  2. Martin sagt:

    Dank, mein Lieber, dass Du uns auch an Zweifeln und weniger hochgestimmten Seelenzuständen teilnehmen lässt.
    Gratuliere Dir von Herzen zum Entschluss, nicht aufzugeben! Und sage gern auch meinerseits: Gott segne Dich!

    In herzlicher Verbundenheit
    Dein Vater

    PS: Ezes kann ich mir nicht ganz verkneifen, schick sie aber lioeber morgen per Mail

  3. Till sagt:

    Lieber David,
    jetzt, da du ja scheint’s schnellen Schrittes Richtung Syrien eilst, möchte ich doch noch einmal versuchen, meine Haltung zu deiner Reise etwas zu klären:
    als staunender Zuschauer auf der Couch gier ich nach deinen Berichten und hoffe, dass dir noch viele interessante Abenteuer begegnen; als dein Bruder wünsche ich mir, bald stolz sein zu können auf dich als Erstbezwinger der “Zu-Fuß-im-Winter-ohne-Geld-von-Deutschland-nach-Jerusalem-Tour”; als Mensch, der dir nah steht (auch wenn das von deiner Seite aus vielleicht anders ist) wünsche ich dir von Herzen, dass deine Reise in jeder Hinsicht gut wird für dich, wie und wo immer sie auch enden mag. Aber ich mache mir – ob’s dir passt oder nicht – auch Sorgen. Das allerdings ist nicht dein Problem (hier hast du mich glaube ich missverstanden). Als verantwortungsbewusster Mensch schließlich werd’ ich, pardon, den Teufel tun, dich bei diesem Wahnsinnstrip auch noch zu bestärken. Das heißt nun überhaupt nicht, dass ich dir Verantwortungslosigkeit vorwerfe. Es beschreibt nur, was ich selbst als Verantwortung dir gegenüber spüre. Irgendwie klarer jetzt?
    …and until we meet again, may God hold you in the palm of His hand!

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