Leid, Angst und Anspruch

Erster Rohentwurf – wird, so Gott will, noch mehrmals überarbeitet und wesentlich ergänzt werden!

Ich habe beschlossen, mich grundlegender mit den Meinungsverschiedenheiten auseinanderzusetzen, die im Zusammenhang mit meiner Reise und der Frage auftreten, ob “so etwas” zu verantworten sei. Ein Beginn kann dieser Beitrag heute Abend sein.

Im wesentlichen gibt es den Vorwurf, mein Leben sinnlos zu gefährden. Es sei schwer, dem einfach so zuzusehen; ich sei naiv und solle daran denken, nicht allein auf der Welt zu sein.

Ich kann das gut nachvollziehen: 

Eine Pilgerreise ist wohl nach “normalen” Maßstäben immer etwas sinnloses: Sie bringt nichts ein, besteht aus stumpfem, wochenlangem Gehen und steigert noch nichteinmal das Bruttoinlandsprodukt. Und Gott findet man in der Regel dabei auch nicht. Sie ist vielleicht die am wenigsten rationale Reise, die man machen kann. Immerhin ist sie normalerweise harmlos.

Wenn man sie im Winter unternimmt, allein und durch Ostmitteleuropa, womöglich die Türkei oder gar Syrien, ist sie nicht in gleichem Umfang unbedenklich zu nennen: Das Risiko, ausgeraubt zu werden oder zu erfrieren, ist unbestritten etwas größer als im Sommer in Nordspanien.

Ja. Und? 

Wie ist denn das mit anderen Dingen und Tätigkeiten, die sichtlich riskanter sind als Halma spielen oder Sudoku lösen? Motorrad Fahren zum Beispiel oder Bergsteigen?

Da wird gerne argumentiert, man könne das Risiko durch entsprechendes Verhalten in Grenzen halten. Nun ja.  

Fruchtbarer als der untaugliche Versuch, Risiko gegen Risiko aufzurechnen, scheint es mir, sich genauer anzuschauen, was hinter den obigen Vorwürfen stecken könnte.

Die Frage nach Sinn oder Unsinn ist naturgegebenermaßen nicht von außen zu beantworten, jedenfalls dann nicht, wenn es sich letzten Endes um eine spirituelle Frage handelt. An dieser Front scheint zunächst also nicht viel zu holen zu sein.

Und was ist mit dem Vorwurf, es sei schwer zu ertragen, sich einen geschätzten, vielleicht geliebten Menschen auf einer Kirchenschwelle erfrierend oder von der Geschossgarbe einer Kalaschnikow niedergemäht vorzustellen? Ist da der Hinweis, nicht allein auf der Welt zu sein, nicht gerechtfertigt? 

Hmmm. Er bedeutet doch wohl: Ich finde es schmerzlich, dich leiden zu sehen, und ich habe Angst um dich, Angst, dass ICH dich verliere. Und in letzter Konsequenz: Da ICH leide, wenn ich weiß, dass du frierst, ich aber nicht leiden WILL, habe ich einen moralischen Anspruch an dich, dafür zu sorgen, dass du nicht frierst. Und da ICH um dich Angst habe, und zwar weil du dich vorsätzlich in eine mir angst machende Situation begibst, ich es aber hasse, Angst zu haben, solltest du am besten SOFORT dafür sorgen, dass das aufhört! Und selbst wenn du mich davon überzeugst, dass du nicht erfrieren und wohl auch nicht erschossen werden wirst, bleibt doch die Tatsache, dass du dich in eine Unsicherheit begibst, die für mich ganz schrecklich vorzustellen ist! Findest du das nicht moralisch verwerflich?!?

Es steckt – da bin ich mir inzwischen ziemlich sicher – der weitverbreitete Impuls dahinter, alles Leiden für sinnlos zu halten und jedem Leiden, so irgend möglich, ausweichen zu wollen. Und außerdem scheint es mir die ANGST zu sein, die diese zweifellos gutmeinenden Menschen antreibt, und dabei ganz besonders auch: die Angst vor der Angst. 

Die ist in unserem Kulturkreis so groß, dass man es nicht nur moralisch indiskutabel findet, wenn jemand sich so verhält, dass man Angst um ihn haben kann, nein: Sie geht längst so weit, dass ein großer Teil der Bevölkerung bereit ist, sich aus Angst vor einem schmerzhaften Sterben auf Sterbehilfe einzuschwören. Das heißt im Klartext: sich umzubringen oder umbringen zu lassen.

Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Der ganz selbstverständliche Anspruch, nicht zu leiden und angstfrei zu leben, und dass jeder alles in seiner Macht stehende dafür tun müsse, diesem meinem Nicht-leiden-Wollen zu entsprechen, zieht sich durch das gesamte Leben der Menschen in der westlich-zivilisierten Welt. 

Es beginnt damit, dass unsere Kinder kaum noch alleine und frei laufen lernen können, mit dem dazugehörigen Hinfallen und den Beulen am Kopf. Und wenn sie es schließlich können, dürfen sie ganz sicher nicht auf einer hohen Mauer entlang balancieren oder auf einen Baum klettern – das Risiko ist doch viel zu hoch! Da würden die Eltern ja sterben vor Angst. 

Dabei wird die Entwicklung der Fähigkeit, Risiken und den eigenen Umgang damit richtig einzuschätzen, konsequent verhindert, ja sabotiert. Fachleute gestehen es bereits freimütig ein: Kinder, die solcherart “behütet” aufwachsen, haben ein sehr viel höheres Unfallrisiko als Kinder, die von Anfang an die Konsequenzen ihres Handelns erfahren dürfen und dabei schnell ein sehr feines Gespür entwickeln für das, was ihnen möglich ist – und was nicht.

Und es geht weiter: Wir versichern uns gegen alle möglichen und unmöglichen Risiken (und gestatten es der Versicherungswirtschaft gern, uns darüber hinwegzutäuschen, das eine Versicherung höchstens vor den wirtschaftlichen Folgen, niemals aber vor einem Unglück an sich schützen kann). Und wir erheben gegenüber den Ärzten den Anspruch – um nur ein besonders deutliches Symptom zu nennen – auf medikamentöse Behandlung aller nur denkbaren Leidens- und Angstzustände. Ich weiß, dass ich mich mit dem, was ich dazu zu sagen habe, zwischen alle Stühle setze; dennoch halte ich es für richtig, es zu äußern: Man kann an den Menschen immer wieder beobachten, wie sie TROTZ  der Medikation immer frustrierter und verzweifelter werden – weil sie nämlich immer weiter und weiter den ANSPRUCH kultivieren, dass ihnen ihr Leiden genommen werde. Und wenn der Arst, die Tablette oder die Spritze (und oft genug alle drei zusammen) diesem Anspruch nicht in vollem Umfang gerecht werden kann, wird die Situation für die Betroffenen immer schlimmer.

Und in letzter Konsequenz endet es dann eben in dem Wunsch nach Sterbehilfe. Und bei der Diskussion darüber beobachte ich eine denkwürdige Verdrehung der Maßstäbe und Ansprüche:

Man merkt nicht mehr (oder will es nicht mehr wissen), dass man sich am Heiligsten  vergreift, wenn man ein Menschenleben vorzeitig beendet. Und man beschimpft stattdessen die, die sich entschieden GEGEN eine solche Hybris wenden (und etwa die “Sterbehilfe” nicht auch noch mit dem Deckmäntelchen der Gesetzlichkeit behängt sehen wollen).

Meine persönliche Haltung ist eine ganz andere:

Ich sehe den Menschen als ein Entwicklungswesen – Erfahrung und das, was sie mit, an und in der Persönlichkeit bewirkt, ist für mich letztlich aufs engste mit dem Sinn des Lebens verknüpft. Und da kommt nach meiner Beobachtung und Selbstbeobachtung der Unsicherheit, dem Schmerz, dem Leid, der Angst und dem Tod eine entscheidende Bedeutung zu. Sie sind es, die anzunehmen den Menschen immer wieder vor die größten Herausforderungen stellt. Und sie sind es, die ihn am eindrucksvollsten wachsen lassen, wenn er sich diesen Herausforderungen stellt und sie besteht.

Das bringt mich dazu, entschieden für ein Menschenrecht auf Risiko, Angst, Leid und Schmerz plädieren. 

Man kann sich die Frage stellen: Führt das bewusste Zulassen dieser geächteten Erlebnisse tatsächlich dazu, dass man ein angsterfülltes, leidvolleres, schmerzlicheres und kürzeres Leben führt? Ein weniger sinnvolles, weniger befriedigendes, weniger gutes, als wenn man sich von dem Impuls leiten ließe, all dem auszuweichen? 

Diese Frage kann man natürlich nächtelang diskutieren. Sie berührt die allerpersönlichsten und die allerletzten und wichtigsten Dinge, mit denen der Erdenmensch zu tun hat: die tiefsten Schicksalsfragen. Es ist deshalb vielleicht letzten Endes auch eine Glaubensfrage, wie man sie beantwortet. Es scheint mir aber so ziemlich die schlechteste Lösung zu sein, dabei die Angst das Steuer in die Hand nehmen zu lassen. Der geneigte Leser ahnt es sicher bereits:

Ich selbst bin zutiefst davon überzeugt, dass die Antwort nein lautet.

Zum (vorläufigen) Schluss noch eine Anekdote, die illustrieren mag, wie weit inzwischen nicht nur der Anspruch an die Leidensvermeidung geht, sondern auch, mit welch verdrehten moralischen Forderungen er einhergehen kann:

Meine Frau hatte vor etwa zwei Jahren einen Schlüsselbeinbruch erlitten. Da sie meine Haltung gegenüber dem Schmerz teilt und sie außerdem den Eindruck hatte, dass ihr der Schmerz eine sichere Richtschnur sein konnte, um abzuspüren, welche Bewegungen und Haltungen ihr schaden und das Verheilen des Bruchs hinauszuzögern werden, beschloss sie, auf jede medikamentöse Schmerzbekämpfung zu verzichten. 

Und dann musste sie mehrfach die Erfahrung machen, dass ihr das von “gutmeinenden” Zeitgenossen als moralisch zweifelhaft, ja sogar verwerflich hingestellt wurde! 

Mit den unbestrittenen Maßstäben in Sachen Moral, dem Kantˋschen Kathegorischen Imperativ und dem volkstümlichen “Was du nicht willst, das dir man tu, das füg auch keinem andern zu!”, sehe ich den bewusst leidensbereiten Menschen jedenfalls nicht im Konflikt.

Und doch gilt bei uns offenbar eine Art ehernes Gesetz: Leid muss unter allen Umständen bekämpft werden… 

Und das ist in meinen Augen eine Menschenrechtsverletzung.

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7 Kommentare zu Leid, Angst und Anspruch

  1. Rahel Britsch sagt:

    Lieber David,

    freue mich, dich lebend zu wissen. Danke für deine neuesten Beiträge.

    Liebe Grüße
    Rahel

  2. Rahel Britsch sagt:

    Nachtrag:

    Ich denke, das Leben birgt genug Leid, so dass man es nicht noch herausfordern muss.
    Du hast, um eine Entwicklung bei dir anzustoßen, deinen Pilgerweg gewählt und das große Glück, dass deine Frau ihn mitträgt. Du scheinst dir aber der Widersprüche, die meines Erachtens nach in der ganzen Sache, bezüglich Leiden, Liebe und Barmherzigkeit stecken, nicht voll bewusst zu sein.
    Du forderst ein “Menschenrecht auf Risiko, Angst, Leid und Schmerz”.
    Nun, ich wüsste niemanden und keine Situation, wo einem dieses “Recht” genommen wird oder genommen werden könnte. (Im Gegenteil, es ist in Deutschland gerade gesetzlich verordnet worden, da die Sterbehilfegesetze deutlich verschärft worden sind. So ist ein Recht darauf, anderen die Flucht aus dem Leid zu erschweren, entstanden. Was ich als übergriffig, anmaßend und menschenverachtend empfinde.)
    Mir scheint eher, du willst ein Recht haben, Risiken einzugehen, Schmerzen zu ertragen und dabei anderen Angst, Leid und Schmerz zufügen zu dürfen, ohne dass diejenigen, denen du das zufügst, sich darüber beklagen, dass du ihnen das zufügst.
    Nun, ich glaube, dieses Recht kann es nicht geben.
    Widersprüchlich in deiner Forderung scheint mir auch dabei zu sein, dass du zur Zeit vom Mitleid und der Barmherzigkeit der Menschen lebst.
    Du gehst hohe Risiken ein, erwartest aber tagtäglich von Menschen, die dich nicht einmal kennen, geschweige denn lieben, dass sie sich mitleidig zweigen, dass sie sich deiner erbarmen und verhindern, dass du zu sehr leidest oder gar stirbst.
    Wenn ein fremder Pilger diesen Impuls des Mitleidens und der daraus folgenden Barmherzigkeit schon auslöst, wie sollten da diejenigen, die dich lieben, ihr Mitgefühl ausschalten können?

    Das musst du als Pilger, denke ich, mit ertragen, dass andere durch deine Pilgerreise leiden.

    Das heißt noch nicht, dass daraus, zumindest was mich angeht, der Anspruch entsteht, dich aufzufordern, damit aufzuhören. Denn, auch wenn ich weder die Vorstellung, dass du einsam und frierend durch die Lande stapfst, noch die Tatsache, dass mich dein Weg gedanklich sehr stark beschäftigt besonders mag, akzeptiere ich deine Wahl, nicht nur, weil ich sowieso keinen Einfluss darauf habe, sondern, weil ich grundsätzlich jedem die Freiheit zugestehe, mit seinem Leben zu machen, was immer er machen will. So erwarte ich aber auch, dass ich die “Freiheit” habe, vieles nicht gutzuheißen, was Menschen mit ihrem Leben so anstellen.
    Was deine Reise angeht, finde ich sie in erster Linie sehr beunruhigend.
    Ich könnte sie positiver sehen, wenn du, der du für deine eigene Entwicklung diesen Weg gewählt hast, erkenntest, dass in dieser Wahl Ich-Bezogenheit liegt, genauso wie in meinem Wunsch, sie positiver sehen zu wollen und in dem Mitleid der Menschen, die dich lieben.

    Herzliche Grüße von deiner Schwester
    Rahel

    • David sagt:

      Quod erat demonstrandum! Wie in meinem Beitrag beschrieben…

      • Till sagt:

        Lieber David,
        ich hab bislang geschwiegen hier, da ich bemerkte, bei diesen “Schicksalsfragen” mit dem Medium des öffentlichen Blogs nicht so wirklich warm zu werden. Da du es nun herausgefordert hast mit deinem Beitrag, freue ich mich jetzt aber auf eine interessante Diskussion, vielleicht geeignet, Missverständnisse zwischen uns auszuräumen, uns näher zu kommen.
        Zunächst mal: Sich um jemanden zu sorgen, um jemanden Angst zu haben, das kommt davon, wenn man jemanden liebt (man kann das natürlich auch weniger pathetisch ausdrücken). Geht es dir nicht auch so, dass du schlecht zuschauen kannst, wenn ein dir lieber Mensch in großer Gefahr ist, ohne dass du ihm helfen kannst?
        Ich hab dir geschrieben, es sei schwer, dir bei dieser Wanderung zuzusehen. Ich hab das geschrieben, kurz nach dem ich am 2.1. völlig überraschend von deinem ganzen Projekt durch deinen Neujahrsgruß und dann durch deinen Blog erfahren hatte. Inzwischen habe ich mehr Hoffnung, dass du diese Reise einigermaßen heil überstehst, und bin insofern etwas beruhigter.
        Ich habe das NICHT geschrieben, um dir den moralischen Vorwurf zu machen, mir mit deiner Reise Leid zuzufügen oder gar den Anspruch zu erheben, dass du deshalb deine Reise abbrechen solltest. Es ist viel mehr so: gerade, weil ich deine Meinung teile, dass wir keinen Anspruch auf ein leidfreies Leben haben, kann ich das ganz gut aushalten. Als unser kleiner Kevin das erste mal bis in den Wipfel einer 15-Meter-Tanne geklettert ist, hab ich gerufen: Halt dich gut fest! Bleib nah am Stamm! Schau, wo du hintrittst!
        Ich finde deine Pilgerreise in mehrfacher Hinsicht durchaus faszinierend, ich bewundere deinen Mut, deine Konsequenz, deine Ausdauer und – nun ja – deine Hoffnung auf Heil durch diesen Weg. Skeptisch bin ich, was den politischen Aspekt deines Projekts angeht, und weltanschaulich trennen uns scheinbar Welten… das sollte aber doch menschlich nicht zwischen uns stehen.
        Im Übrigen spricht mir Rahels Antwort aus dem Herzen, und ich verstehe deine (erste?) Reaktion darauf gar nicht. Vielleicht hast du ja bald nochmal die Muße, mehr dazu zu schreiben.
        Ich wünsche dir weiter gute Beine, gute Nerven, passables Wetter, gute menschliche Begegnungen, die deine Reise ermöglichen.

  3. Martin sagt:

    Danke, lieber David für Deine neuesten langen Beiträge! Ich bin vorallem froh, dass Du mit dem strengen Winter bisher so gut zurecht kommst!

    Mich mit Deiner Philosophie zu Leid als Menschenrecht ecta auseinanderzusetzen, fehlt mir im Moment noch die Kraft. Vorher will ich erst versuchen, das was Deine Unternehmung mit mir macht in Worte zu fassen. Das ist für mich wichtiger!

    Sei herzlich umarmt
    Martin

  4. Till sagt:

    Heute morgen begegnete mir in der Zeitung ein anderer Fan des Leidens – Mel Gibson:
    “Neben den seelischen geht es in Ihren Filmen immer auch intensiv um körperliche Qualen, denen Ihre Protagonisten ausgesetzt sind…
    GIBSON: Die sind für mich untrennbar mit der menschlichen Existenz verbunden. Gewöhnliche Menschen in außergewöhnlichen Situationen – das ist es, was mich interessiert. Wie verhalten sie sich? Niemand leidet gerne. Aber im Leiden kommt der Kern eines jeden Menschen zutage.”

  5. Elisabeth Lahusen sagt:

    Lieber David,
    Dieser Beitrag und die Kommentare Deiner Geschwister sprechen so viele Fragen an: Gibt es ein Menschenrecht auf Leid – was bedeutet Empathie – darf ich Mitgefühl fordern, darf ich es ablehnen, jemandem zu helfen, wann werden wir anderen zur Last und wann zur Freude… vielleicht geht es nicht darum, diese Fragen zu beantworten, sondern auch darum, sie zu stellen. (?) Deine Wanderung kann gelingen oder scheitern – in einem äußeren und einem inneren Sinne, sie fordert die Menschen heraus, die zu Hause bleiben und sich sorgen und sie fordert Menschen heraus, die Dir nicht persönlich durch die familiäre Bindung, aber doch durch ein gemeinsames Zeitschicksal verbunden sind und die dadurch, dass sie Dich beherbergen, Teil Deines Schicksals werden, so wie Du Teil ihres Schicksals wirst. Wann werden aus Zeitgenossen Schicksalsgenossen und warum? Es sind Menschheitsfragen, die von Odysseus bis Per Gynt immer wieder auch ganze Völker beschäftigen und jeden zu anderen Antworten bringen. Mir hat vor Jahren ein norwegischer Fernfahrer, der mich mehrere hundert Kilometer durch sein Land mitnahm gesagt: “Per Gynt, das bin ich.” Und ich hatte den Eindruck, er spricht die Wahrheit. Er kannte, so klang es durch seinen Bericht, den Knopfgießer aus eigenem Erleben. – Meine Meinung zum Leid: Es steht jedem frei, sich selbst jeden Schmerz zuzumuten, aber man sollte alles tun, um unnötige Leiden für andere zu vermeiden . Leiden an sich ist sinnlos. Es gibt auch über das Leid keine Abkürzung zum Guten: Das Leid macht uns weder zu besseren noch zu schlechteren Menschen. Es ist einfach da. /// Du gehst Schritt für Schritt – ob Du dabei Dich selber findest, oder vor Dir selber fliehst, kannst nur Du wissen. Und vielleicht auch das nicht wissen, sondern nur erwandern. Wir sind die Erben wandernder und sesshafter Völker und es ist Teil unseres Erbes, dass wir beides in uns tragen. Vielleicht muss auch von Zeit zu Zeit, gerade wenn ein Kulturraum vergisst, was Heimat ist , auch einfach wieder einer zum Wanderer werden. Und sei es auch nur, weil zu seinem persönlichen Schicksal das Wandern gehört. Allerdings nehmen wir uns gegenseitig immer mit: ” Wir, die wir uns bewohnen” sagte Clown Nögge einmal in einem Gedicht… Auch das ist ein Teil der Wahrheit. Allerdings nur ein Teil- jeder von uns ist auch ein Mensch für sich. Du hast Dich für wildlebende Tiere interessiert, Du hast Dich für die Jagd interessiert und jetzt folgst Du den Spuren einer Kultur, die schon fast vergessen ist, bis nach Jerusalem, das der Ursprung und das Ziel für Jahrtausende lange Wanderungen war. Und auch, wenn es uns Sesshaften eher fremd ist: Pilgern war in früheren Zeiten etwas Normales. Die Menschen wussten, dass Per Gynt und Solveigh, Odysseus und Penelope Aspekte der gleichen Seele sein konnten. Vielleicht wird es wieder einmal normal werden, dass Menschen auf Pilgerschafft gehen. Ich wünsche Dir Weidmannsheil auf der Jagd Deines Lebens, lieber Cousin – viel Glück beim Spurenlesen und irgendwann einen glückliche Heimkehr.

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